Auf der Tonspur

Rainer Wolter steht im dunkelsten Raum der Binzer Dorfkirche. Einem Raum, so groß wie ein kleines Zimmer. Nur die wenigsten Besucher dürften diesen Ort je betreten haben. Auf die Tür hat Rainer Wolter die Daten seiner Visiten mit Bleistift geschrieben: 1985, 2000, 2013, 2014. Die Luft hier drinnen ist kühl. Es knarrt und rauscht um ihn herum.

Rainer Wolter steht im Inneren der Kirchenorgel. Hinter der vom Kirchenschiff aus sichtbaren Schauseite erstreckt sich ein Wald aus Pfeifen, Bleiröhrchen und Holzbalken. Behände klettert der erste Orgelbauer und -restaurator Rügens zwischen ihnen hin und her. 800 Orgelpfeifen beherbergt die 1912 vom Stettiner Orgelbaumeister Grüneberg erbauten „Königin der Instrumente“ in ihrem Inneren. Die kleinsten Zinnpfeifen sind so dünn wie ein Finger. Die größten Kiefernholzpfeifen für die Basstöne so groß wie ein Mensch. Darunter: Pfeifenreihen, die wie Oboen klingen, andere, die an den Klang von Violinen oder Hörnern erinnern.
Rainer Wolter kennt die Orgeln auf Rügen wie kein Zweiter

Spielte jemand auf den Tasten des Instruments, würde sich die Maschinerie im Inneren in Gang setzten. Ventile sich öffnen und schließen, Luftkissen blähen, Verbindungen entstehen. Ein Luftstrom, durch die dünnen Bleirohre zu den Pfeifen geleitet, würde diese zum Klingen bringen. Die tiefsten Basstöne könnte Rainer Wolter körperlich spüren. Doch jetzt ist es still. Behutsam bewegt er sich auf dem Gangboden des Instruments, überprüft Stimmvorrichtungen an den Pfeifen, beseitigt Verschmutzungen, die den Ton beeinträchtigen können. Unter ihm stößt ein motorbetriebener Blasebalg, groß wie ein Küchentisch, Wind in die bleiernen Adern der Orgel.

Etwa zwanzig Ziegelsteine beschweren die schnaufende, atmende Lunge des Organismus, um den erforderlichen Druck zu erzeugen. Bevor es Strom gab, übernahmen „Kalkanten“ die Aufgabe des Motors, meist Kinder oder Jugendliche aus der Gemeinde, die, verborgen hinter einer Holzwand oder in einer kleinen Kammer, unterarmlange Holzpedale niedertreten mussten, um so Luft in die Orgellunge zu pumpen. Eine Arbeit, die nach wenigen Minuten Schweiß auf das Gesicht treibt. In Garz, 30 Kilometer südlich von Binz, ist die Wand einer solchen Kammer noch heute mit den Initialen von Geerationen von Kalkanten übersät.

Nach 35 Jahren im Beruf hat Orgelbaumeister Rainer Wolter, ein schlanker Mann mit grauem, glattem Haar und hellen, freundlichen Augen, an jeder Orgel auf Rügen Hand angelegt. 37 Instrumente gibt es heute auf der Insel. Blaue, Bunte, Goldene, Barocke, Romantische. Etwa 200 hat Wolter in seinem Leben restauriert, viele davon vor dem Verfall gerettet. Monate bis Jahre kann die Restauration einer Orgel dauern. Allein für die Bestandsaufnahme des Zustandes können mehrere Tage verstreichen.

Für seinen Beruf braucht der Orgelbaumeister ein geschultes Gehör. Mit einem Stimmhorn verengt oder erweitert er beispielsweise die Ränder der Pfeifenköpfe um Bruchteile von Millimetern. So bestimmt er Höhe, Charakter und Stärke des Klangs. Wenn Rainer Wolter in seinen Werkstätten in Dresden oder in Zudar auf Rügen arbeitet, Pfeifen reinigt, Filz- und Lederteile erneuert, Holzleim erhitzt oder Tasten ausbessert, ist dies alles Teil eines Kunstwerkes. Seit 2017 sind Orgelbaukunst und Orgelmusik von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt.

Zu vielen Orgeln der Inseln Rügen hat der Restaurator Zugang. Wenn er Lust verspürt, setzt er sich an eine von ihnen und erfüllt den Kirchenraum mit ihrer herzberührenden Stimme. Sein erstes Orgelstück hörte Rainer Wolter mit 19 in einer Berliner Kirche. Eiskalt sei ihm geworden, so bewegt war er von dem warmen, erdigen Klang des Instruments. Von da an gab es keinen Weg zurück. Nur noch einen: hinein in das Innere der Königin. Zu den Röhrchen, Pfeifen und Bälgen. Zu dem Ursprung der Musik.

Client

Tourismuszentrale Rügen
Kampagnentext für das Themenjahr "Inselklang" 2020