Beton kann tanzen

Schließen Sie die Augen und denken Sie an Beton.

Höchstwahrscheinlich sehen Sie jetzt Plattenbauten, Mauern und tristes Grau vor Ihrem inneren Auge. Nicht filigrane Origami-Figuren und schwungvolle Objekte, die sich blähen wie Segel im Wind. Doch, wer die Augen öffnet, kann solche Bauwerke sehen. Auf der Insel Rügen. In Mecklenburg. Und der ganzen Welt.

Ein Spaziergang entlang der Strandpromenade von Altsassnitz. Rechts das wogende Meer und links … Ja, was ist das? Eine versteinerte Walfischschwanzflosse taucht zwischen zwei bulläugigen Schiffsrümpfen hervor. Knapp 20 Kilometer südlich von hier reckt ein kalkweißer E.T. seinen Kopf aus den Binzer Dünen. Ein andermal wartet ein meterhoher Taucherhelm an einem Buschvitzer Straßenrand auf Besucher. Illusionen? Nein, eher Visionen.

Hinter diesen utopisch wirkenden Gebilden verstecken sich zweckmäßige Alltagsbauten: ein Musikpavillon, eine ehemalige Rettungsstation der Strandwache und eine Bushaltestelle. Sie sind Zeugnisse einer einst aufsehenerregenden DDR-Architektur: die Schalenbauten des ostdeutschen Bauingenieurs Ulrich Müther. 85 Jahre wäre der Binzer Baumeister 2019 geworden. Seine Tragwerke stehen für ein Stück junge Architekturgeschichte, das zuweilen in Gefahr geriet, vergessen zu werden. Neunzehn der insgesamt 74, realisierten und bis heute entdeckten Objekte, stehen oder standen auf seiner Heimatinsel Rügen.

Der Mann, der Beton zum Fliegen brachte

Binz, DDR-Zeit. Der Mann, der Beton das Fliegen lehren wird, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Den Weg zum Bauingenieur muss sich der junge Rüganer erst Stein für Stein erarbeiten. Als Sohn eines Unternehmers bleibt ihm in den 50er Jahren der direkte Zugang zum Studium verwehrt. Erst nach einer Zimmermannslehre und einer Ausbildung an der Ingenieursschule in Neustrelitz gelingt ihm das Fernstudium an der Technischen Hochschule Dresden. Neben dem Studium arbeitet er drei Jahre in einem Entwurfsbüro für Kraftwerke. 1959 übernimmt er den väterlichen Betrieb. Fünf Jahre später folgt die erste Schale. Eine Mehrzweckhalle in Heimatstadt Binz. Sie ist die Realisierung seiner Diplomarbeit über„Hyperbolische Paraboloide“.

Über was, bitte? Kurz „Hyparschale“ nennt Müther die Form, mit der seine Firma etwa 55 Bauwerke im In- und Ausland krönen wird. Die sattelartige, doppelt gekrümmte Dachform wird bereits seit den 1930er Jahren im Betonschalenbau angewendete. Das besonders ist, dass man diese Form rein durch Geraden darstellen kann. Sie lässt sich einfach durch Holzbretter nachbilden. Auf solche, mit Drahtnetzen ausgelegten, Holzschalungen spritzen nun Mitarbeiter Müthers zentimeterdünn zähflüssigen Beton.

Schwung für den Sozialismus

Im nassen Zustand haftet Frischbeton auf den ungewöhnlichsten Flächen. Müther lässt seine dünnwandigen Betonschalen sich emporwinden, spreizen, rotieren, ducken, krümmen, falten. Zuweilen wirkt die Statik auf den Kopf gestellt. Die Schalenformen verjüngen sich nach unten, wachsen nach oben. Oft unsichtbar gestützt muten die Konstruktionen schwerelos an. Grazil, wie im Balanceakt. Ähnlich dem Spritzbeton auf den Stahlbewehrungen scheinen die Schalendächer mitten in der Bewegung erstarrt zu sein. Bewegtes wird Fest. Erstarrt in der Position.

Viele Objekte Müthers verharren im Aufschwung oder Abflug. Kanten und Ränder weisen mach oben, zum Himmel. Schwung in die ostdeutsche Architektur bringen, das war Müthers Aufgabe. Unspektakuläre Gebäude zum Tanzen bringen. Dieser Schwung sollte sich zu DDR- Zeiten auf Wirtschaft und Zeitgeist übertragen. Rund, zackig, trichterförmig, utopisch, skulptural, geometrisch oder außerirdisch. Überdimensionale Falter necken klotzige Plattenbauten. Leichtigkeit und Eleganz stellen sich Stillstand und Unbeweglichkeit gegenüber.

Im Osten was Neues

Aus Mecklenburg-Vorpommern eroberten die Betonschalen den Westen. Auch Wolfsburg, Helsinki, Kuwait oder Tripolis wollen bald einen „Müther“. Gegen Westgeld oder Westware finden vor allem Kuppeln für Planetarien ihren Weg über die Mauer. Wie konnte ein einzelner Mann eine derart dominierende Position in der staatlich gelenkten Bauwirtschaft der DDR einnehmen? „Sein Betrieb auf Rügen war weit genug entfernt von den politischen Zentren, wie Rostock oder Berlin, und stand dadurch weniger unter staatlicher Kontrolle“, mutmaßt Kunsthistorikerin Dr. Tanja Seeböck. Lutz Grünke, langjähriger Bauleiter, Statiker und Wegbegleiter Müthers ergänzt: „Keine andere Firma in Ostdeutschland konnte Schalenbauten sowohl berechnen als auch planen und bauen. Das war ein absolutes Alleinstellungsmerkmal“. Müther selbst bezeichnete sich nie als Architekt, sondern als„Landbaumeister“. Einer, der alles kann und macht: von der Zeichnung bis zur fertigen Abnahme.

Das Blatt wendet sich

Binz, heute. Unweit des Erstlingswerkes spreizt ein ehemaliges Wartehäuschen seit über 50 Jahren die Flügel zum Spagat. Im Ferienort Glowe ragt die dreieckige Gaststätte„Ostseeperle“ wie ein gestrandeter Schiffsbug in Richtung Meer. Ein gläserner Schatz im Inneren einer halb geöffneten Muschel aus Stein. Romantisierend wie unpassend wirken ebenfalls die Namen anderer Gesellschaftsbauten: Inselparadies, Seerose, Ahornblatt. Letzteres erlangte traurigen Ruhm, als 2000 dessen Abriss bekannt wurde. Fast ein Viertel der auf Rügen errichteten Werke sind seit den 90ern abgerissen worden. Weitere wurden nach der Wende zweckentfremdet oder verfallen. Das Schalenbauverfahren selbst wird nach 1990 nicht mehr angewendet. Zu teuer. Zu zeitintensiv. „Nicht nur Architektur braucht Zeit. Auch die Gesellschaft braucht Zeit zu verstehen, dass DDR-Architektur nicht nur Politik und Platte bedeutet“, meint Professor Matthias Ludwig, Leiter des Müther Archivs in Wismar.

Doch gerade dieses Verschwinden generiert neue Aufmerksamkeit. Als 2000 das „Ahornblatt“ in Berlin abgerissen wird, führt das zu einem öffentlichen Skandal. Paradoxerweise fällt dieser Aufschwung zusammen mir dem Konkurs der Firma Müthers. 1999 meldete er Insolvenz an.„Müther war ein begnadeter Ingenieur, kein Kaufmann. Er scheute sich Menschen zu entlassen oder skeptisch gegenüber dubiosen Bauherren zu sein“, erklärt Grünke. Acht Jahre nach dem Untergang seiner Firma stirbt der Baumeister. Seine Werke haben ihn überlebt und werden weiter leben. Hoffentlich. Die Sanierung des Binzer Rettungsturm schaffte es 2018 sogar in die Tagesthemen. Heute kann man in dem Strandturm heiraten. Das Tanzen geht weiter.

Client

Tourismuszentrale Rügen
  • Kampagnentext für das Themenjahr "Inselbaukunst" 2019

 

Foto der Printausgabe des Rügen Pur-Magazins als Screenshot von: www.ruegen.de/ruegen-pur